Das Falsche Gewicht by Joseph Roth

Das Falsche Gewicht by Joseph Roth

Author:Joseph Roth [Roth, Joseph]
Language: deu
Format: epub
ISBN: 9783847260295
Publisher: TREDITION CLASSICS
Published: 2012-05-10T22:00:00+00:00


XXII

Die meisten sterben dahin, ohne von sich auch nur ein Körnchen Wahrheit erfahren zu haben. Vielleicht erfahren sie es in der anderen Welt. Manchen aber ist es vergönnt, noch in diesem Leben zu erkennen, was sie eigentlich sind. Sie erkennen es gewöhnlich sehr plötzlich, und sie erschrecken gewaltig. Zu dieser Art Menschen gehörte der Eichmeister Eibenschütz.

Der Sommer kam plötzlich, ohne Übergang. Er war heiß und trocken, und wenn er hie und da ein Gewitter gebar, so verging es schnell und hinterließ eine noch heftigere Hitze. Das Wasser wurde spärlich, die Brunnen versiegten. Das Gras auf den Wiesen wurde früh gelb und welk, und selbst die Vögel schienen zu verdursten. Sie waren zahlreich in dieser Gegend. Jeder Sommer noch, den Eibenschütz hier verbracht hatte, war erfüllt gewesen von ihrem heftigen, schmetternden Gesang. In diesem Sommer aber vernahm man sie nur selten, und der Eichmeister bemerkte zu seinem Erstaunen, daß er ihren Gesang vermißte. Wann hatte er jemals etwas auf den Gesang der Vögel gegeben? Warum empfand er auf einmal alle Veränderungen in der Natur? Was war ihm denn die Natur sein Leben lang gewesen, dem Feuerwerker Eibenschütz? Klare Sicht oder schwache Sicht. Ein Exerzierplatz. Mäntel anziehn oder umschnallen. Ausrücken oder nicht ausrücken. Die Läufe der Karabiner zweimal am Tag putzen lassen oder nur einmal. Warum nur fühlte der Eichmeister Eibenschütz plötzlich alle Veränderungen in der Natur? Warum genoß er jetzt das tiefe, sommerliche Grün der großen, breiten, reichen Kastanienblätter, und weshalb betäubte ihn jetzt der Duft der Kastanien so heftig?

Sein Kind, das heißt das Kind des Schreibers Nowak, wurde jetzt im Kinderwagen spazierengeführt. Er begegnete manchmal seiner Frau im kleinen Stadtpark, wenn er ihn durchquerte, um vom Amt in die Wohnung zu gehen. Es war zu heiß, um auf den Steinen zu marschieren. Wenn er seine Frau traf, ging Eibenschütz eine Weile neben ihr dahin, hinter dem Kinderwagen, und sie sprachen kein Wort. Längst empfand er keinen Haß, weder gegen die Frau noch gegen das Kind, beide waren sie ihm gleichgültig, zuweilen fühlte er sogar Mitleid mit beiden. Er ging dahin, hinter dem Wagen, neben der Frau, einfach, weil er darauf bedacht war, die Leute im Städtchen glauben zu lassen, es sei alles in Ordnung. Plötzlich kehrte er um, ohne Wort, ohne Gruß, und ging nach Hause. Das Dienstmädchen reichte ihm das Essen. Er aß hastig und unachtsam. Er dachte schon an den Schimmel, an das Wägelchen, an die Fahrt nach Szwaby, an die Grenzschenke.

Er ging hinaus in Schuppen und Stall, er spannte ein, und er fuhr los. In goldenen Wolken aus Staub und Sand fuhr er dahin, seine Kehle war trocken, die unbarmherzige Sonne stach mit tausend Lanzen auf seinen Kopf durch den breitrandigen Strohhut, aber sein Herz war fröhlich. Oft und oft hätte er vor einem Wirtshaus halten können, viele Wirtshäuser standen auf seinem Weg. Er hielt nirgends. Durstig und hungrig, wie seine Seele war: so wollte er in Szwaby, in der Grenzschenke ankommen.

Er kam an, es dauerte gute zwei Stunden. Der Schimmel Jakob war schon ungeduldig, er ließ die Zunge hängen, er lechzte nach Wasser, und seine Flanken zitterten in heißer Erregung.



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