Ginster (German Edition) by Kracauer Siegfried

Ginster (German Edition) by Kracauer Siegfried

Author:Kracauer, Siegfried [Kracauer, Siegfried]
Language: deu
Format: epub
Publisher: Suhrkamp Verlag GmbH & Co. KG (com)
Published: 2013-02-17T23:00:00+00:00


VIII

Der Mann mit dem Knopf am Uniformkragen hieß Knötchen. Er war Gefreiter und stand unmittelbar über Ginster, der zu seiner Korporalschaft gehörte. Herr Gefreiter. Mehrere Korporalschaften bildeten zusammen einen Zug. Die Vorgesetzten waren lauter Herren, aber nicht geehrte wie in Briefen, sondern wirkliche, die einen Inhalt hatten, der aus ihrer Ranghöhe folgte. Knötchen trug eine Brille. Statt daß sie ihn bedeutender machte, sank sie durch ihn zu einem ungebildeten Nutzglas herab. Beide schienen durch den Staub gezogen worden zu sein, so grau sahen sie aus. Wenn die Vorgesetzten einen Kanonier mit Sie anredeten, meinten sie Es; was daraus hervorging, daß der Kanonier seinerseits ihnen gegenüber nicht zum Sie greifen durfte, sich vielmehr einer unpersönlichen Wendung bedienen mußte. Untereinander mochten sich die Kanoniere als Sies empfinden; das heißt, sie duzten sich, aber das Du war ein Sie. Dem richtigen Du näherte sich in gewissen Fällen am ehesten die Bezeichnung Sie an, die sich im Verkehr zwischen Ginster und Ahrend aufgedrängt hatte. Freilich konnte ihre Beziehung nur unter den gegenwärtigen Verhältnissen als intim aufgefaßt werden. Die ganze Grammatik war militärisch verändert. Den Hauptanstoß zu ihrer Umwandlung hatte vermutlich die Notwendigkeit gegeben, den Dingcharakter der Menschen auszudrücken, den sie in der gewöhnlichen Sprache nicht besaßen. Auch sonst kannte sich Ginster schlecht aus. Dicht bei dem Berner Hof befand sich der Marienhof, der ebenfalls als Soldatenquartier verwandt wurde, da die Kasernen bei weitem nicht ausreichten. Es war zu viel Krieg. Die zwei Anwesen lagen zwischen Häusern versteckt, etwas abseits von einer platzartigen Verkehrsstraße, von der aus schmale Gäßchen schnurstracks auf ihre Eingänge zuliefen; mit dem Mittelalter standen sie beide durch künstliche Erker in Verbindung, die an ihren Fronten und Ecken angebracht waren. Wurde Ginster während der ersten Tage überhaupt ins Freie gelassen, so landete er auf dem Rückweg stets beim Marienhof, den er vergeblich nach einem Garten durchsuchte. Er glaubte, vor dem Berner Hof angelangt zu sein, und wunderte sich über das plötzliche Verschwinden des Gartens. Es dauerte eine gewisse Zeit, ehe er dahinterkam, daß das gartenlose Gebäude ein für allemal der Marienhof war. Von ihm zum Berner Hof durchzufinden, war des Straßengewinkels wegen so schwierig, daß Ginster manchmal in die verkehrte Richtung geriet und sein Quartier kreisförmig umstrich. Wenigstens ermittelte er bald, daß die abendliche Musik von einer Militärkapelle herrührte, die im Restaurationssaal des Erdgeschosses konzertierte. Sie spielte nicht alle Tage. Die Kanoniere erhielten die Erlaubnis, sich vor der Schlafenszeit noch in den Saal hinunterzubegeben. Dort saßen sie beieinander und unterhielten sich wie Schüler über die Vorgesetzten und den Dienst. Aus der Nähe klang auch die leise Musik laut, schöner war sie oben im Bett, wo die Töne nicht über den Lauscher herfielen, sondern ihm immer wieder entschlüpften. Vielleicht hingen sie nur zusammen, um in Bruchstücken vernommen zu werden. Die Rundbogenfenster reichten bis zum Fußboden herab und wurden gewiß im Sommer entfernt. Dann drang das Bier weit in den Garten hinaus. Von allen Getränken liebte es am meisten den Aufenthalt unter Bäumen. Da die Kanoniere sich schon vor neun zum Schlafen rüsten mußten, hatte das Konzert noch kaum angefangen, wenn sie den Saal verließen.



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