Die folgende Geschichte by Nooteboom Cees

Die folgende Geschichte by Nooteboom Cees

Author:Nooteboom, Cees [Nooteboom, Cees]
Language: deu
Format: epub
Published: 2013-09-28T16:00:00+00:00


This is, I believe, it:

not the crude anguish of physical death

but the incomparable pangs

of the mysterious mental maneuver

needed to pass

from one state of being to another.

Easy, you know, does it, son.

Vladimir Nabokov, Transparent Things

II

Wer gewohnt ist, mit einer Klasse von dreißig Schülern fertig zu werden, hat gelernt, schnell zu schauen. Ein Junge, zwei alte Männer, zwei meines Alters. Die Frau, die etwas abseits stand, mit einem Gesicht wie eine Galionsfigur, konnte ich nicht einschätzen: Vielleicht war dieser erste Eindruck noch der beste, eine Galionsfigur. Sie winkte dem kleinen Boot, das uns zu dem größeren Schiff bringen sollte, das weiter oben im Fluß ankerte. Es war noch früh, leichter Nebel, das Schiff eine umflorte schwarze Form. Was mir am meisten auffiel, war der Ernst des Jungen, zwei Augen wie Gewehrläufe. Ich kenne solche Augen, man sieht sie auf der Meseta, der spanischen Hochebene. Es sind Augen, die in die Ferne schauen können, ins weiße Licht der Sonne. Gesprochen wurde noch nicht. Wir wußten sofort, daß wir zueinander gehörten. Meine Träume haben immer auf unangenehme Weise dem Leben geglichen, als könnte ich mir nicht einmal im Schlaf etwas ausdenken, doch jetzt war es umgekehrt, jetzt glich mein Leben endlich einem Traum. Träume sind geschlossene Systeme, in ihnen stimmt alles.

Ich sah zu der lächerlichen Christusfigur, die hoch oben am Südufer stand, Arme weit ausgebreitet, fertig zum Sprung. »Fertig zum Sprung«, das hatte sie gesagt. Jetzt, wo ich die Figur sah, wußte ich plötzlich wieder, worüber wir gesprochen hatten an jenem Abend am Wasser. Sie hatte mir alles mögliche erklären wollen von Gehirnen, Zellen, Impulsen, dem Stamm, der Rinde, diesem ganzen raffinierten Fleischerladen, der angeblich unser Tun und Lassen steuert und kontrolliert, und ich hatte ihr gesagt, ich fände Worte wie graue Masse einfach gräßlich, und bei Zellen müsse ich an Gefängnisse denken und ich hätte Fledermaus regelmäßig so einen blutig durchäderten kleinen Pudding gegeben, kurz, ich hatte klargestellt, daß es für meine Gedankengänge nicht wesentlich sei zu wissen, in welchen schwammigen Höhlen sie sich im einzelnen abspielten. Daraufhin hatte sie gesagt, ich sei noch schlimmer als ein Mensch aus dem Mittelalter, das Messer des Vesalius hätte geistig Minderbemittelte wie mich schon vor Jahrhunderten aus ihrem geschlossenen Körper befreit. Darauf hatte ich natürlich entgegnet, all ihre noch so scharfen Messer und Laserstrahlen hätten bislang nicht das verborgene Königreich der Erinnerung gefunden und Mnemosynè sei für mich unendlich realer als die Vorstellung, daß alle meine Erinnerungen, auch die Erinnerungen, die ich später, irgendwann einmal, an sie haben würde, in einer Spardose aufbewahrt werden müßten aus grauer, beiger oder cremefarbener schwammiger und reichlich schleimiger Materie, und daraufhin hatte sie mich geküßt, und ich hatte noch etwas zu diesen fordernden, suchenden, verlangenden Lippen gebrabbelt, aber sie hatte meinen Mund, diesen ewigen Schwätzer, einfach zugebissen, und wir waren dort sitzen geblieben, bis die Morgenröte mit ihren rosigen Fingern auf die Christusfigur am anderen Flußufer gedeutet hatte.

Aber das alles war damals. Der alte Fährmann, der uns nun übersetzen sollte, ließ den Motor an, die Stadt rückte schaukelnd von uns weg.



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