Das Verschwinden der Kindheit by Neil Postman

Das Verschwinden der Kindheit by Neil Postman

Author:Neil Postman [Postman, Neil]
Language: eng
Format: epub
Published: 0101-01-01T00:00:00+00:00


Kapitel 7

Der Kind-Erwachsene

Es gibt einen häufig gesendeten Werbespot für Ivory-Seife, in dem zwei Frauen auftreten, die uns als Mutter und Tochter vorgestellt werden. Der Zuschauer soll nun raten, wer die Mutter und wer die Tochter ist - beide sehen aus wie Ende zwanzig und sind mehr oder weniger austauschbar. Mir erscheint dieser Werbefilm als ein ungewöhnlich direkter Beleg für die These, daß die Unterschiede zwischen Erwachsenen und Kindern nach und nach erlöschen. Auch viele andere Werbefilme enthalten unausgesprochen die gleiche Botschaft, aber der hier erwähnte Streifen proklamiert ganz ausdrücklich, es gelte in unserer Kultur heute als wünschenswert, daß eine Mutter nicht älter aussieht als ihre Tochter oder daß eine Tochter nicht jünger aussieht als ihre Mutter. Ob man daraus nun den Schluß zieht, daß die Kindheit verschwindet, oder aber den, daß das Erwachsenenalter verschwindet, ist bloß eine Frage der Perspektive. Ohne klare Vorstellung davon, was es bedeutet, Erwachsener zu sein, kann es auch keine klare Vorstellung davon geben, was es bedeutet, Kind zu sein. Den Grundgedanken dieses Buches - daß unsere elektronische Informationsumwelt die Kindheit zum Verschwinden bringt - kann man daher auch so formulieren: unsere elektronische Informationsumwelt bringt die Erwachsenheit ebenfalls zum Verschwinden.

Ich habe mich bemüht darzustellen, daß die moderne Vorstellung von Erwachsenheit zum großen Teil ein Produkt der Druckerpresse ist. Fast alle Merkmale, die wir mit dem Erwachsensein verbinden, werden (und wurden) durch die Anforderungen einer entfalteten Schriftkultur hervorgebracht oder weiterentwickelt die Fähigkeit zur Selbstbeherrschung und zum Aufschub unmittelbarer Bedürfnisbefriedigung, ein differenziertes Vermögen, begrifflich und logisch zu denken, ein besonderes Interesse sowohl für die historische Kontinuität als auch für die Zukunft, die Wertschätzung von Vernunft und gesellschaftlicher Gliederung. In dem Maße, wie die elektronischen Medien die Schriftbeherrschung an die Peripherie der Kultur drängen und ihren Platz im Zentrum einnehmen, steigen andere Haltungen und Charakterzüge in der Wertschätzung, und eine reduzierte Definition von Erwachsenheit beginnt sich abzuzeichnen. Diese Definition schließt die Kinder nicht mehr aus, und so kommt es zu einer neuen Einteilung der menschlichen Lebensalter. In der Ära des Fernsehens gibt es drei Lebensstufen - am einen Ende das Säuglingsalter, am anderen Ende die Senilität und dazwischen das, was wir als den Kind-Erwachsenen bezeichnen können. Der Kind-Erwachsene ist ein Mensch, dessen intellektuelle und emotionale Fähigkeiten sich im Laufe seiner Geschichte nicht entfaltet haben und sich insbesondere von denen der Kinder nicht sonderlich abheben. Solche Menschen hat es immer gegeben, doch die Kulturen unterscheiden sich darin, wie weit sie die Entwicklung einer solchen Charakterstruktur begünstigen oder hemmen. Im Mittelalter war der Kind-Erwachsene gleichsam der Regelfall, vor allem, weil es in einer Welt ohne Literalität, ohne Schulen und civilité keiner besonderen Disziplin und Unterweisung bedurfte, um erwachsen zu werden. Aus ähnlichen Gründen wird der Kind-Erwachsene auch in unserer Kultur wieder zum Regelfall. Daß dies tatsächlich geschieht, möchte ich im nächsten Kapitel nachweisen; zunächst jedoch will ich darstellen, wie und warum es geschieht.

Eine knappe Antwort auf diese Frage ist in dem bereits Gesagten enthalten. Indem sich der symbolische Schauplatz, auf dem die menschliche Entwicklung vor sich geht, seiner Form und seinem



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