Das philosophische Denken im Mittelalter by Flasch Kurt

Das philosophische Denken im Mittelalter by Flasch Kurt

Author:Flasch, Kurt
Language: deu
Format: epub
ISBN: 9783159602387
Publisher: Reclam
Published: 2013-05-07T16:00:00+00:00


Lullus’ Definition des Menschen

Lullus war ein unruhiger Geist. Fast nichts an der Tradition ließ er unberührt; alles wollte er erneuern – die Christenheit, das Nebeneinander der Religionen, die Logik und die Medizin, die Philosophie und die Theologie, zunächst aber die Sprache. Er suchte die Abweichung; die abgedroschene Sprache der Schulen stieß ihn ab. Seine Neuerungssucht in der Terminologie wurde schon im Mittelalter kritisiert (J. Gerson), während Cusanus sie nachahmte. Nehmen wir ein einfaches Beispiel: Seit der Antike hatte man den Menschen definiert als animal rationale. Lull gab sich damit nicht zufrieden. Der Mensch ist nach Lull zu definieren als menschenbildendes, menschenmachendes Lebewesen (animal homificans)10. Dagegen kann man einwenden, in »Menschenmachen« (homificare) sei »Mensch« (homo), also das zu Definierende, bereits enthalten. Jedenfalls handelt es sich um eine störend neue Vokabel. Aber diese Störung war intendiert: Was der Mensch ist, sollte an seiner Tätigkeit, an seiner ganzheitlichen Realisation, am humanen Prozess insgesamt abzulesen sein; »Lebewesen-sein« und »Vernünftigkeit«, animalitas und rationalitas, seien zu generische Bestimmungen.

Ihre Zusammenstellung zur üblichen Definition des Menschen als »vernunftbegabtes Lebewesen« (animal rationale) vermeidet nicht den Dualismus, auch wenn man ihre Einheit nachträglich betont. Ein Löwe ist, nach Lull, ein »löwenschaffendes Seiendes« (ens leonans), Gott ein »gottschaffendes Seiendes« (ens deificans). Lulls terminologische Neuerung verrät nicht nur sprachliche Eigenwilligkeit und Beweglichkeit; sie deutet auf ein eigenes Konzept von Wirklichkeit als Tätigkeit, ein Konzept, das der traditionelle logische Formalismus und der herkömmliche Dualismus verfehlt haben. Wer Lulls Definition des Menschen hört, weiß zwar damit noch nicht, was homificare heißt. Aber er lernt auf die gesamte menschliche Lebenstätigkeit achten; er gibt sich nicht zufrieden mit einer äußerlichen Etikettierung oder Subsumption; er beginnt den Menschen zu denken als eine unbekannte, umfassende Wesens-Tätigkeit jenseits der traditionellen Rahmen von Animalität und Rationalität.



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