Gewalt by Pinker Steven

Gewalt by Pinker Steven

Author:Pinker, Steven [Pinker, Steven]
Language: deu
Format: epub
ISBN: 978-3-10-401616-0
Publisher: Fischer E-Books
Published: 2011-10-13T16:00:00+00:00


Säuglingsmord an Mädchen steht heute weltweit auf der Tagesordnung, weil Volkszählungen in den Entwicklungsländern auf einen massiven Frauenmangel schließen lassen. Nach einer häufig zitierten Statistik »fehlen 100 Millionen«, die Mehrzahl davon in China und Indien.[1152] In Asien haben viele Familien eine krankhafte Vorliebe für Söhne. In manchen Ländern kann eine schwangere Frau in eine Klinik gehen, eine Fruchtwasser- oder Ultraschalluntersuchung vornehmen lassen, und wenn sie erfährt, dass sie mit einem Mädchen schwanger ist, kann sie gleich nebenan in die Abtreibungsklinik gehen. Wegen der Möglichkeiten, eine Schwangerschaft mit einer Tochter technologisch-effizient auszuschließen, mag es so scheinen, als sei die Mädchenknappheit ein Problem unserer Zeit; in Wirklichkeit ist Säuglingsmord an Mädchen aber in China und Indien schon seit über 2000 Jahren dokumentiert.[1153] In China hatten die Armen einen Wassereimer neben dem Bett und ertränkten das Baby, wenn es ein Mädchen war. In Indien gab es viele Methoden: »Gib ihm eine Pille aus Tabak und Cannabis zu schlucken, ertränke es in Milch, reibe die Brust der Mutter mit Opium oder dem Saft der giftigen Daturapflanze ein, oder bedecke den Mund des Kindes mit Kuhdung, bevor es Atem holt.« Und auch wenn man Töchtern das Leben zugestand, dauerte es oftmals nicht lange. Eltern teilten den größten Teil der verfügbaren Lebensmittel den Söhnen zu, und ein chinesischer Arzt erklärte: »Wenn ein Junge krank wird, schicken die Eltern ihn sofort ins Krankenhaus, aber wenn ein Mädchen erkrankt, sagen die Eltern: ›Nun ja, warten wir einmal ab, wie es ihr morgen geht.‹«[1154]

Den Mord an weiblichen Säuglingen gibt es nicht nur in Asien.[1155] Zu den vielen Völkern von Jägern und Sammlern, die neugeborene Töchter häufiger töten als Söhne, gehören die Yanomamo. Im alten Griechenland und Rom wurden Babys »in Flüssen, Misthaufen oder Jauchegruben beseitigt, zum Verhungern in Krüge gesteckt oder in der Wildnis den Elementen und den Tieren ausgesetzt.«[1156] Auch im Europa des Mittelalters und der Renaissance kam Säuglingsmord häufig vor.[1157] Und in allen diesen Regionen starben mehr Mädchen als Jungen. Oftmals töteten Familien jede neugeborene Tochter, bis sie einen Sohn bekamen; später geborene Töchter ließ man dann am Leben.

Aus biologischer Sicht ist der Mord an weiblichen Säuglingen ein Rätsel. Jedes Kind hat eine Mutter und einen Vater; wenn die Menschen sich also Sorgen um die Nachwelt machen, sei es wegen ihrer Gene oder wegen ihrer Dynastie, ist die Tötung der eigenen Töchter eine Form von Irrsinn. Ein Grundprinzip der Evolutionsbiologie lautet: Ein Geschlechterverhältnis von 50 zu 50 zur Zeit der Geschlechtsreife ist in einer Population ein stabiles Gleichgewicht, denn wenn Männer in der Mehrzahl sind, besteht ein größerer Bedarf an Töchtern, so dass diese gegenüber den Söhnen im Vorteil sind, weil sie Partner anlocken und Kinder zur nächsten Generation beitragen können. Das Umgekehrte gilt für Söhne, wenn Frauen in der Mehrzahl sind. Soweit Eltern durch Gene oder Umwelt über das Geschlechterverhältnis ihrer überlebenden Nachkommen bestimmen können, sollte die Nachwelt sie bestrafen, wenn sie grundsätzlich Söhne oder Töchter bevorzugen.[1158]

Eine naive Hypothese ergibt sich aus der Erkenntnis, dass die Zahl der Frauen darüber bestimmt, wie schnell eine Population wächst.



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