Kehlmann, Daniel by Ruhm

Kehlmann, Daniel by Ruhm

Author:Ruhm
Format: epub


«Ist Ihnen schlecht?» fragte Ludwig.

«Wollen Sie ein Glas Wasser?» Er schüttelte den Kopf, wandte sich ab und ging langsam davon. Um ihn waren Villen, Hecken, hohe Gartenzäune. Die Sonne stand niedrig. Es roch nach gemähtem Rasen. Er blieb stehen und setzte sich auf den Boden. Was war geschehen? Hatte ein Betrüger seinen Platz eingenommen? Womöglich war es ja der Imitator, den er im Looppool getroffen hatte; vielleicht hatte der ihn durchschaut, den Moment genutzt und ihn nun vollends in die Rolle eines Mannes namens Matthias Wagner, Zuschauer, Imitator und Fan, verdrängt. Eines Mannes, der sich so ins Dasein eines ihm ähnlich sehenden Vorbildes versenkt hatte, dass er dessen Dasein mit seinem eigenen verwechselte. So etwas kam vor. Man las davon in Zeitungen. Nachdenklich holte er seinen Personalausweis hervor, las wie zum ersten Mal den aufgedruckten Namen und steckte ihn wieder ein. Er sah auf. Auf der anderen Straßenseite hatte sich das Gartentor geöffnet. Ludwig und Malzacher kamen heraus, und zwischen ihnen, groß und kraftvoll, Ralf Tanner. Er konnte sich nicht erinnern, dass er selbst je so eine gute Figur abgegeben hatte. Wer auch immer ihn aus seinem Leben verdrängt hatte, er machte es perfekt, er war der Richtige dafür, und wenn irgendjemand Tanners Dasein verdient hatte, dann der dort drüben. Was für eine Würde, welch ein Charisma. Ein Auto fuhr vor, Ralf Tanner öffnete die Tür, nickte dem Fahrer zu und verschwand im Fond. Malzacher stieg nach ihm ein, Ludwig schloss das Gartentor. Als der Wagen vorbeifuhr, sprang Matthias Wagner auf und beugte sich vor, aber die Scheiben waren getönt, und er sah nur seine eigene Spiegelung. Schon war das Auto vorbei, bog um die Ecke und war außer Sicht. Er schob die Hände in die Taschen und ging langsam die Straße entlang. Also hatte er den Ausweg gefunden.

Er war frei. An einer Bushaltestelle blieb er stehen, aber dann entschied er sich anders und ging weiter, ihm war jetzt nicht danach. Es war jedes Mal seltsam, öffentliche Verkehrsmittel zu benützen, wenn man einem Star ähnlich sah. Die Leute starrten, Kinder stellten dumme Fragen, und man wurde mit Telefonen fotografiert. Oft machte es ja auch Spaß. Manchmal schien es einem, als wäre man ein anderer.

Osten Woher hätte sie wissen sollen, dass es hier heiß war? In ihrer Phantasie hatte sie Bilder verschneiter Steppen gesehen, über die der Eiswind zog, wirbelnden Schnee, Nomaden vor Zelten, Yaks und nächtliche Lagerfeuer unter gewaltigen Sternenhimmeln. Tatsächlich aber roch es nach Baustellen, Autos hupten, und die Sonne brannte. Eine Fliege schwirrte um ihren Kopf. Nirgendwo ein Geldautomat. Gestern in ihrer Bank hatte die Schalterfrau gelacht: Solche Währungen führe man nicht, sie solle es vor Ort versuchen. Jetzt stand sie hier, im Benzingeruch, nach einem endlosen Flug durch die Nacht. Neben ihr hatte ein riesiger Mann gesessen und die ganze Zeit über geschnarcht. Immer wenn seine Hand auf ihren Schoß gefallen war, hatte sie sich gefragt, warum in aller Welt sie sich bereit erklärt hatte, einzuspringen und diese Reise zu machen. Aber sie war neugierig gewesen auf einen fernen Teil des Planeten, und so hatte sie kurz entschlossen ja gesagt.



Download



Copyright Disclaimer:
This site does not store any files on its server. We only index and link to content provided by other sites. Please contact the content providers to delete copyright contents if any and email us, we'll remove relevant links or contents immediately.