Deutschland aus der Vogelperspektive by Herder

Author:Herder
Format: epub
Publisher: Herder

Aus der Sicht von Hans-Jochen Vogel

Dass aus dem Konklave im Oktober 1978 erstmals nach 456 Jahren ein Nicht-Italiener und dazu noch ein Pole als Nachfolger Pauls VI. hervorging, war eine große Überraschung. Kam Karol Wojtyla doch aus dem sowjetischen Machtbereich und zudem aus dem Land, in dem sich schon damals oppositionelle Kräfte gegen das kommunistische System regten. Als Kardinal in Krakau hatte er aus seiner Sympathie für diese Kräfte kein Hehl gemacht. Gerade ihn zum Papst zu wählen, war eine überaus mutige und – wie sich zeigen sollte – auch weitblickende Entscheidung des Kardinalskollegiums.

Zum ersten Mal habe ich Johannes Paul II. anlässlich seiner Amtsübernahme am 22. Oktober 1978 in Rom gesehen. Als Bundesjustizminister vertrat ich bei dieser Gelegenheit die Bundesregierung und Bundeskanzler Helmut Schmidt, der infolge einer fiebrigen Erkältung nicht reisen konnte. Unvergessen ist mir insbesondere der Appell, den er in seiner feierlichen Ansprache anlässlich der Übernahme seines Hirtenamtes (nach der von mir benutzten Übersetzung) so formulierte: „Reißt die Tore weit auf für Christus! Öffnet die Grenzen der Staaten, die wirtschaftlichen und politischen Systeme, die weiten Bereiche der Kultur, der Zivilisation und des Fortschritts seiner rettenden Macht! Habt keine Angst!“ Dieser Appell aus seinem Munde weckte zusätzliche Hoffnungen. Denn an Grenzen im wirklichen und auch im übertragenen Sinne mangelte es damals wahrlich nicht – und in unserem eigenen Land, dem noch geteilten Deutschland, durch das der Eiserne Vorhang und in Berlin die Mauer lief, schon gar nicht.

Zu persönlichen Gesprächen, die jeweils unter vier Augen stattfanden, bin ich dem Papst in der Folgezeit dreimal begegnet: zum ersten Mal im Dezember 1982 als Kanzlerkandidat meiner Partei, ein weiteres Mal im September 1985 als Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion und schließlich noch einmal im Oktober 1988, als ich Willy Brandt als SPD-Parteivorsitzender nachgefolgt war.

Das Verhältnis zwischen der katholischen Kirche und der Sozialdemokratie war bekanntlich bis in die Mitte des letzten Jahrhunderts hinein sehr distanziert, ja kontrovers. Das hat sich erst mit der Verabschiedung des Godesberger Programms im Jahre 1959 und mit den Beschlüssen des Zweiten Vatikanums grundlegend verändert. Hat doch erst das Godesberger Programm die Vorstellung eines gesellschaftlichen Endzustandes, auf den die geschichtliche Entwicklung mit zwingender Gesetzmäßigkeit hinauslaufe, in aller Form aufgegeben und erstmals den öffentlich-rechtlichen Status der Kirche und ihren besonderen Auftrag ausdrücklich anerkannt. Nur wenige Jahre später hat das Zweite Vatikanum die Entwicklung der kirchlichen Einstellung zur Demokratie zu einem positiven Abschluss gebracht und in der Konstitution Gaudium et spes unter anderem festgestellt, dass es in politischen Fragen unter den Gläubigen in gleicher Sache oft mehrere Meinungen über das Richtige gibt.

Vor diesem Hintergrund war allein schon das Zustandekommen der drei Privataudienzen von einiger Relevanz. Vorher war ja nur Willy Brandt einmal von Johannes XXIII. und einmal von Paul VI. empfangen worden. Vielleicht hat für die relative Häufigkeit dieser Audienzen auch eine Rolle gespielt, dass ich – unbeschadet meines infolge meiner Wiederverheiratung eingeschränkten kirchenrechtlichen Status – der erste praktizierende Katholik an der Spitze der SPD war.

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