Mein Katalonien by George Orwell

Mein Katalonien by George Orwell

Author:George Orwell [Orwell, George]
Language: deu
Format: epub


NEUNTES KAPITEL

Von Mandalai im oberen Burma kann man mit der Eisenbahn nach Maimio, der bedeutendsten Bergstation der Provinz am Ende des Shan-Plateaus, reisen. Es ist ein ziemlich eigenartiges Erlebnis. Man beginnt die Reise in der typischen Atmosphäre einer Stadt des Ostens – dem sengenden Sonnenlicht, den staubigen Palmen, dem Geruch von Fischen, Gewürzen und Knoblauch, den breiigen tropischen Früchten und dem Schwarm dunkelhäutiger, menschlicher Wesen. Weil man so daran gewöhnt ist, trägt man diese Atmosphäre mit, wenn man in den Eisenbahnwagen einsteigt. Wenn der Zug in Maimio zwölfhundert Meter über dem Meeresspiegel hält, ist man im Geiste immer noch in Mandalai. Aber wenn man aus dem Waggon aussteigt, tritt man in eine völlig andere Hemisphäre. Plötzlich atmet man eine kühle, süße Luft wie in England, und rundherum wachsen grünes Gras, Farnkraut und Tannenbäume, und die rotwangigen Frauen des Hügellandes verkaufen Körbe mit Erdbeeren.

Ich wurde daran erinnert, als ich nach dreieinhalb Monaten von der Front nach Barcelona zurückkam. Hier erlebte ich den gleichen jähen und erschreckenden Wechsel der Atmosphäre. Auf dem ganzen Weg nach Barcelona herrschte im Zug die Atmosphäre der Front: der Schmutz, der Lärm, die Unbequemlichkeiten, die zerlumpte Kleidung, das Gefühl der Entbehrung, der Kameradschaft und der Gleichheit. Immer mehr Bauern stiegen an jeder Station der Eisenbahnlinie in den Zug, der schon beim Verlassen von Barbastro voller Miliz-Soldaten war. Die Bauern brachten Bündel Gemüse, verängstigtes Geflügel, das sie mit dem Kopf nach unten trugen, und Säcke, die sich am Boden hin und her wanden und in denen ich lebendige Kaninchen entdeckte. Zum Schluß wurde noch eine ziemlich große Schafherde in die Abteile getrieben und in jede freie Ecke gequetscht. Die Milizsoldaten schrien Revolutionslieder, die das Rattern des Zuges übertönten. Jedem hübschen Mädchen längs der Bahnlinie warfen sie Kußhände zu oder winkten ihm mit ihren roten und schwarzen Taschentüchern. Flaschen mit Wein und Anis, dem schmutzigen aragonischen Schnaps, wanderten von Hand zu Hand. Mit einer spanischen Wasserflasche aus Ziegenhaut läßt sich ein Schuß Wein quer durch einen Eisenbahnwaggon in den Mund eines Freundes spritzen, so erspart man sich große Umstände. Neben mir erzählte ein schwarzäugiger fünfzehnjähriger Junge sensationelle und zweifellos völlig unwahre Geschichten von seinen Heldentaten an der Front. Er erzählte sie zwei alten Bauern mit lederartigen Gesichtern, die ihm mit offenem Mund zuhörten. Bald öffneten die Bauern ihre Bündel und gaben uns etwas klebrigen dunkelroten Wein. Jeder war völlig glücklich, glücklicher, als ich es beschreiben kann. Aber als der Zug durch Sabadell gerollt war und Barcelona erreichte, schritten wir in eine Atmosphäre, die uns und unseresgleichen gegenüber kaum fremder und feindseliger sein konnte, als wenn es Paris oder London gewesen wäre.

Jeder, der während des Krieges im Abstand von einigen Monaten Barcelona zweimal besuchte, hat sich zu dem außerordentlichen Wechsel geäußert, der in dieser Zeit stattfand. Ob jemand zuerst im August und dann im Januar hingekommen war oder, wie ich selbst, zuerst im Dezember und dann wieder im April, er sagte merkwürdigerweise immer das gleiche: Die Atmosphäre der Revolution war verschwunden. Zweifellos sah für jeden, der im August dagewesen war,



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