Die Entdeckung des Himmels by Harry Mulisch

Die Entdeckung des Himmels by Harry Mulisch

Author:Harry Mulisch [Mulisch, Harry]
Language: deu
Format: epub
Tags: Frauensteiner Kreis
Published: 2013-06-01T16:00:00+00:00


Bei einer Schranke am Stacheldrahtzaun hielt er an, stieg wortlos aus und betrachtete mit angehaltenem Atem das Lager. Von den Plänen und Pausen, die er in Leiden und Dwingeloo öfter vor sich liegen gehabt hatte, wußte er, daß sein Grundriß ein Trapez von etwa einem halben Kilometer Länge und einem halben Kilometer Breite bildete. Was er sah, war ein großer, waldgesäumter Platz, die eisige Luft voller winziger Nadeln, die im Sonnenlicht glitzerten; auf dem Gelände Reihen verfallener Baracken, die ebenso rechtwinklig zueinander angeordnet waren wie in Birkenau – ein unmenschliches Muster, das auch als Vorbild für die Wohnviertel der Nachkriegszeit gedient zu haben schien. Aus manchen Schornsteinen kam Rauch, aber die meisten Unterkünfte waren offenbar nicht mehr bewohnt, einige wenige waren abgebrannt und hier und da auch einfach verschwunden. Nicht weit vom Zaun spielten Kinder, und irgendwo fuhr jemand Fahrrad, der sicher viel darüber zu erzählen hatte, was sich während der japanischen Besatzung in Indonesien abgespielt hatte, aber nichts von dem wußte, was sich hier zugetragen hatte.

Die Schienen vor ihm führten bis zum Ende des Lagers – parallel dazu, etwas weiter rechts, wie – ja, wie was? – wie eine Vision, eine Fata Morgana, wie ein Traumbild, über eine Länge von anderthalb Kilometern, stand eine Reihe gigantischer Parabolantennen, die auf der einen Seite in das Lager hineinführten und es auf der anderen Seite wieder verließen.

Seine Augen wurden feucht. Hier, am Arsch der Niederlande, erflehten sie in der totalen Stille wie große Weihwasserbecken den Segen des Himmels. Im selben Augenblick spürte er, wie der Druck von ihm abfiel, der nun schon seit einigen Jahren auf ihm lastete: hier, an diesem verfluchten Ort, würde er arbeiten. Plötzlich wußte er keinen anderen auf Erden, an dem er lieber gearbeitet hätte. War hier nicht alles, was er selbst war, vereint wie im Brennpunkt einer Linse?

Ohne Sophia anzusehen, stieg er wieder ein und fuhr langsam zu einem niedrigen, neu errichteten Dienstgebäude – und konnte plötzlich nicht mehr aufh ören zu reden. Aufgeregt drehte er sich immer wieder halb zu ihr um und erzählte, daß das Lager 1939 von der niederländischen Regierung für aus Deutschland geflohene Juden errichtet worden sei, das erste Judenlager außerhalb Deutschlands, daß aber die Kosten auf die jüdische Gemeinschaft in den Niederlanden abgewälzt worden seien. Als die Deutschen einmarschierten, hatten sie die Flüchtlinge also ordentlich zusammen, später transportierten sie von hier aus mehr als hunderttausend niederländische Juden nach Polen – im Verhältnis sogar mehr als aus Deutschland selbst. Nach dem Krieg wurden in dem Lager niederländische Faschisten eingesperrt, von denen es in Drenthe jede Menge gab, eine Zeitlang diente es als Militärkaserne, dann wurden Rücksiedler aus Indonesien darin untergebracht und schließlich die Molukker, die nun gegen ihren Willen und regelmäßig mit Hilfe der Polizei in mehr oder weniger normale Wohnviertel gezwungen wurden. Um die Rückkehr in das Lager zu verhindern, ließ man alles verkommen. Mit dem Bau der Sternwarte, hofft e die Regierung, würde Westerbork seinen schlechten Ruf allmählich verlieren. Als er das einmal Onno erzählte, vermutete der seinen ältesten Bruder hinter diesem Kalkül, den Kommissar der Königin in Drenthe.



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