Mein schwacher Wille geschehe by Nutt Harry

Mein schwacher Wille geschehe by Nutt Harry

Author:Nutt, Harry [Nutt, Harry]
Language: deu
Format: epub
Published: 2013-09-10T16:00:00+00:00


|121|Die Kunst der Verspätung

»Er bereut kein Hindernis, nichts, das ihn aufgehalten hat. Hätte er gewusst, dass er achtzig wird, er hätte mit allem noch länger gewartet.«

Elias Canetti

Wer zu spät kommt, das wissen wir seit Michael Gorbatschow und dem unaufhaltsamen Ende der DDR, der hat mit Strafe zu rechnen. Dabei hat Gorbatschow den berühmten Satz so wohl nie gesagt. Die zeitliche Dimension des Zitats, das Endgültigkeit heraufbeschwörende »zu spät«, fehlte im russischen Original völlig. Gorbatschow hatte sich sehr viel zurückhaltender ausgedrückt. Anlässlich des 40. Jahrestags der DDR soll er unter Ohrenzeugen vielmehr gesagt haben: Schwierigkeiten lauern auf den, der sich dem Leben nicht stellt. Nichts Dramatisches also. Schwierigkeiten lauern. Das tun sie doch eigentlich immer. Was danach jedoch aus dem Satz wurde, kann als Lehrstück für das Wechselverhältnis von Mythos und Mythisierung gelten. Was immer Übersetzerkongresse dem gesprochenen Wort noch abringen mögen: Der Satz »Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben« ging in die Geschichte ein und verwies darauf, dass es mitunter mehr als nur eine kleine Untugend ist, nicht rechtzeitig da zu sein.

In der zum Sprichwort verdichteten Version sind zwei auffällige Veränderungen am ursprünglich Gesagten vorgenommen worden. Die Schwierigkeiten, die Gorbatschow wohl aus diplomatischen Gründen nicht näher definieren mochte, sind zur Strafe zugespitzt worden. Und das philosophisch anmutende Diktum, dem zufolge man sich dem Leben zu stellen habe, wird zur Kennzeichnung einer Verfehlung des Pünktlichkeitsgebots. |122|Während in der ursprünglichen Version Schwierigkeiten auf das handelnde Subjekt zukommen, wird das Leben in der Sprichwortfassung paradoxerweise selbst zum Akteur. Die Lebenszeit, die so oder so vergeht, wird zur strafenden Instanz. Die Strafe droht nicht, sie ist so sicher wie das Amen in der Kirche. Dem übermächtigen Akteur – der ablaufenden Zeit – kann man nicht ausweichen.

Lässt man den politischen Kontext, in dem Gorbatschow seine berühmten Sätze gesagt hat, einmal außer acht, dann fällt die allgemeine Verpflichtung zur Pünktlichkeit auf, die wie eine nicht zu hinterfragende Autorität in Erscheinung tritt. Sie ist eine Voraussetzung für den funktionierenden Alltag. Wer zu spät kommt, den erwartet nicht irgendeine Strafe. Er wird vielmehr mit einer nicht näher bestimmten Instanz konfrontiert. Das Leben wird durch seine Unbestimmtheit zur unabwendbaren Bedrohung. Es gibt niemanden, der das Strafmaß aufheben oder verändern könnte. Es gibt nicht einmal jemanden, der es ausspricht. Die Strafe steht im Raum, und sie ist umso schlimmer, weil sie von niemandem verhängt worden ist. Der Gorbatschow zugeschriebene Satz beansprucht Absolutheit und suggeriert Unerbittlichkeit. Einspruch wird nicht abgelehnt, er ist gar nicht erst vorgesehen. Das Leben verzeiht nichts. Die Strafe für das Zuspätkommen ist die Höchststrafe, weil sie kontingent ist. Wenn Gnade gewährt wird, dann allenfalls durch zufällige Ignoranz.

Die paradoxe Rolle des Lebens als handelndem Subjekt verweist auf den metaphorischen Charakter des Satzes und enttarnt ihn als Rhetorik. Nichts kann schlimmer sein, so die naheliegende Dechiffrierung der Redefigur, als dass sich das Leben gegen einen richtet. Die radikale Verkürzung macht sie erst zu dem Merksatz, der seither in aller Munde ist. Die Schuld muss groß sein, wenn die Strafe derart unfassbar erscheint. Die stark aufgeladene Bedeutung des Verhaltens zur und in der Zeit deutet auf eine anthropologische Dimension hin.



Download



Copyright Disclaimer:
This site does not store any files on its server. We only index and link to content provided by other sites. Please contact the content providers to delete copyright contents if any and email us, we'll remove relevant links or contents immediately.