Herz der Finsternis by Joseph Conrad

Herz der Finsternis by Joseph Conrad

Author:Joseph Conrad [Conrad, Joseph]
Language: deu
Format: epub
ISBN: 9783150087145
Publisher: Reclam, Ditzingen
Published: 1898-12-31T23:00:00+00:00


III

»Völlig verwundert sah ich ihn an. Dort stand er vor mir im Narrenkleid, als wäre er einer Komödiantentruppe entlaufen, euphorisch, fabelhaft. Sein ganzes Dasein war unwahrscheinlich, unerklärlich und gänzlich verwirrend. Er war ein unlösbares Rätsel. Es war unvorstellbar, wie er gelebt hatte, wie es ihm gelungen war, so weit zu kommen, wie er geschafft hatte zu überleben – weshalb er nicht sofort vom Erdboden verschwunden war. ›Ich ging ein Stück‹, erklärte er, ›dann noch ein Stück – immer weiter, bis ich so weit war, daß ich keine Ahnung hatte, wie ich je zurückkäme. Macht nichts. Zeit genug! Ich schaffe es schon. Bloß bringen Sie Kurtz schnell weg – schnell – hören Sie auf mich.‹ Der Glanz der Jugend umhüllte seine bunten Lumpen, sein Elend, seine Einsamkeit, die fundamentale Trostlosigkeit seiner vergeblichen Wanderungen. Monatelang – jahrelang – war sein Leben keinen Heller wert gewesen; und hier war er, wacker, gedankenlos am Leben, allem Anschein nach unzerstörbar allein durch seine Jugend und seinen unbesonnenen Wagemut. Ich neigte zu so etwas wie Bewunderung – wie Neid. Dieser Glanz trieb ihn weiter, dieser Glanz beschützte ihn. Er wollte nichts von der Wildnis, da war ich sicher, als einen Raum zum Atmen und zum Vorwärtsdringen. Seine Bedürfnisse bestanden darin, zu sein und weiterzuziehen, unter größtmöglichem Risiko und äußerster Entbehrung. Wenn je ein Mensch von vollkommen reinem, nicht rechnendem, ziellosem Abenteuergeist beherrscht wurde, dann dieser flickenbesetzte junge Mann. Fast beneidete ich ihn um den Besitz dieser bescheidenen, hellen Flamme. Sie schien jeden selbstsüchtigen Gedanken so nachhaltig verzehrt zu haben, daß man, sogar während man mit ihm sprach, vergaß, daß er es war – der Mann hier vor einem –, der all das mitgemacht hatte. Ich beneidete ihn jedoch nicht um seine Hingabe an Kurtz. Er hatte nicht darüber nachgedacht. Sie hatte sich seiner bemächtigt, und er akzeptierte sie mit einer Art eifrigem Fatalismus. Ich muß sagen, das schien mir in jeder Hinsicht das Gefährlichste zu sein, was ihm bisher begegnet war.

Die beiden waren unaufhaltsam aufeinander zu getrieben wie zwei Schiffe, die gemeinsam in eine Flaute geraten und schließlich Rumpf an Rumpf beieinanderliegen. Ich vermute, Kurtz wollte einen Zuhörer, denn einmal, als sie im Wald kampierten, hatten sie die ganze Nacht geredet, oder, wahrscheinlicher, Kurtz hatte geredet. ›Wir redeten über alles‹, sagte er, ganz entrückt bei der Erinnerung. ›Ich vergaß, daß es überhaupt so etwas wie Schlaf gab. Die Nacht schien keine Stunde zu dauern. Über alles! Über alles! ... Auch über die Liebe.‹ ›Oh, er hat also mit Ihnen über die Liebe geredet!‹ sagte ich belustigt. ›Nicht was Sie denken‹, rief er, fast aufbrausend. ›Es ging ums Allgemeine. Er brachte mich dazu, Dinge zu sehen – Dinge.‹

Er warf die Arme in die Luft. Wir befanden uns auf dem Deck, und der Häuptling meiner Holzhacker, der in der Nähe hockte, blickte ihn mit schweren, funkelnden Augen an. Ich sah mich um, und ich weiß nicht warum, doch ich versichere euch, niemals, niemals zuvor waren mir dieses Land, dieser Fluß, dieser Dschungel, ja, selbst dieses strahlende Himmelsgewölbe so



Download



Copyright Disclaimer:
This site does not store any files on its server. We only index and link to content provided by other sites. Please contact the content providers to delete copyright contents if any and email us, we'll remove relevant links or contents immediately.